Fotografieren für Europa
Der Werbe- und Modefotograf Jochen Sand wirbt mit seinem freien Projekt rescEUrope für die europäische Idee.
Wenn ich auf meinen bisherigen Werdegang zurückblicke, dann hat sich vieles umstandshalber gefügt. Ursprünglich wollte ich mal Künstler werden, habe die Idee dann aber schnell wieder verworfen, als ich mich mit Anfang 20 an Kunsthochschulen umgesehen und festgestellt habe, dass sich die meisten mit „rennenden Scheren“ und anderen für meinen Geschmack überdrehten Konzepten beschäftigten. Visuell arbeiten wollte ich trotzdem, bewarb mich deshalb kurzerhand auf ein Grafik-Design-Studium, doch kurz vor der Zusage bekam ich das Angebot, eine fotografische Lehre in einem Karlsruher Werbestudio zu machen, und sagte zu. Das Medium gefiel mir sehr, weniger aber die Fließband-Fotografie, die ich dort kennenlernte. Anfang der 90er ging ich nach New York, um eben diese Art der Werbefotografie, die ich gerade erlernt hatte, wieder zu verlernen. Ich fotografierte auf der Fashion Week, lernte Mickey Rourke kennen, schlug (dummer-weise) das Angebot einer Assistenz bei Steven Meisel aus, kehrte nach Karlsruhe zurück, um endgültig meine sieben Sachen zu packen – und blieb, weil ich Vater wurde.
Der Rest ist schnell erzählt. Aus meiner Ausbildungszeit hatte ich erste Kontakte zu Kunden, eins ergab das andere, jedenfalls hatte ich bald hinreichend viele Aufträge im Werbebereich. Die Jahre gingen ins Land, das Netzwerk wurde größer, meine Kunden kamen (und kommen) aus unterschiedlichsten Branchen – Kreditinstitute, überregionale Backstuben, Healthcare, Hoch-/Tiefbau beispielsweise. Das Standbein stand, alles lief gut, doch irgendwann hatte ich das Bedürfnis nach einem inhaltlichen Mehrwert. Ich begann, Mode-Editorials zu schießen – und hatte mein kreatives Spielbein gefunden.
Dann kam die Krise über Europa.
Die Finanzmarktkrise, die Russen auf der Krim und im Donbass, Charlie Hebdo und weitere islamistische Anschläge in europäischen Städten, die Proteste gegen die deutsche Willkommenskultur und Merkels „Wir schaffen das“, der Kampf zwischen Brexit-Befürwortern und Gegnern, der Hass der Wutbürger und Neurechten gegen jede Vernunft und alles, was erreicht worden ist auf dem Kontinent. Ich habe diese Entwicklung intensiv in der Presse verfolgt, aber je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigte, desto hilfloser fühlte ich mich. Ich beschloss, etwas zu unternehmen, mit dem Mittel, das mir am nächsten ist: der Kamera.
Die paneuropäische Idee fasziniert mich schon länger, auch weil sie mich und mein Leben persönlich berührte. Noch bevor sich die EU als ideeller und wirtschaftlicher Raum konstituierte, war ich eine Zeit lang in Barcelona, lernte dort meine damalige Freundin kennen und zog später mit ihr nach Karlsruhe. Es war damals nicht leicht für uns, ihr Aufenthaltsstatus war prekär, Europa als Idee einer echten Staatengemeinschaft weit entfernt. Als die EU dann zu dem wurde, was sie heute ist, freuten wir uns, doch bald war der neue Status Normalität und Europa wieder raus aus unseren Köpfen. Bis – Jahre später – die Anti-Europa-Bewegungen aufflammten. Ich verstand das alles nicht: Wie, dachte ich, kann es sein, dass die EU diese Idee der gemeinsamen Werte, der Grenzenlosigkeit, des gemeinsamen Wirtschaftsraums, der Solidarität nicht so kommuniziert, dass sie bei den Menschen verfängt? Woher diese Aversion gegen eine historisch einmalig gute Idee?
2017 habe ich dann beschlossen, der Sache fotografisch auf den Grund zu gehen. Zum Auftakt habe ich die EU-Organe in Frankfurt, Brüssel, Straßburg und Luxemburg ins Visier genommen, in der Folgezeit bin ich in unregelmäßigen Abständen mit meinem VW-Bus zu europarelevanten Terminen gereist: Zur Wahl Macrons zum französischen Präsidenten, zum G20-Gipfel in Hamburg, zum Brexit-Sondergipfel in Brüssel und zu den Protesten der Brexit-Gegner in London. Ich habe die Sachsenwahl und die Rolle der „Alternative für Deutschland“ fotojournalistisch begleitet. Als „Die Rechte“ in Karlsruhe demonstrierte, war ich vor Ort und wurde angefeindet, bei einer Wahlveranstaltung von Angela Merkel im Saarland von AfD-Anhängern bespuckt. Ich glaube aber, …“
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