Projekt: Die Kehrseite der Nachtwache
Mit dem Projekt „Nachtwache“ hat der niederländische Fotograf Julius Rooymans gemeinsam mit dem Modedesigner Hans Ubbink Rembrandts Original mit „integrierter Rückseite“ in Szene gesetzt. In digit! erzählt er die Geschichte dazu.
Von Peter Schuffelen
Rund 70.000 produzierte Gemälde jährlich, mehrere Millionen insgesamt: Das „Goldene Zeitalter“ während des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden ist quantitativ und qualitativ beispiellos in der Kunstgeschichte. Rembrandts Bild „Offiziere und andere Schützen des Bezirks II in Amsterdam, unter Führung von Hauptmann Frans Banninck Cocq und Leutnant Willem van Ruytenburch“ – besser bekannt als „Die Nachtwache“ – ist das wohl bekannteste, bestuntersuchte und am meisten replizierte und zitierte Gemälde aus dieser Epoche. Man findet es auf Taschen, Kaffeetassen oder Tapeten. Nicht selten verschwindet das Original hinter dem Meer aus popkulturellen Zitaten. So auch bei der im Pop-Art-Stil gehaltenen Replik, die ich eines Tages in einer Galerie sah: die Nachtwache als mit erotischen Akten und Graffiti-Sprüchen durchsetztes Mash-up. Ich war entsetzt.
Das Gute daran: Dieses Erlebnis war die Initialzündung für mein Projekt. Die Idee: Ich wollte Rembrandts berühmtestes Gemälde in Form einer originalgetreuen fotografischen Kopie feiern und zugleich die Lebensumstände des Künstlers fotografisch nacherzählen. Ich wollte zeigen, dass die Schönheit des Gemäldes viel Arbeit, Leid und Inspiration erforderte. Denn eines wurde mir bewusst, je länger ich mich mit der Entstehungsgeschichte des Bildes beschäftigte: Rembrandt durchlief schwere Zeiten, als er das Gemälde fertigte, das heute als sein Hauptwerk gilt. Seine Frau Saskia starb im Jahr der Fertigstellung, er war pleite, und seine Popularität befand sich im Sinkflug, denn inzwischen war ein heller, heiterer Malstil gefragt.
Vor diesem Hintergrund kam ich auf die Idee, die „andere Seite“ des Gemäldes zu inszenieren, diejenige, die die Lebensumstände Rembrandts zeigt – ganz so, als würden Zeitgenossen Rembrandts aus dem Bild herausblicken auf den Künstler, der gerade an der Staffelei steht und dabei ist, das Bild zu malen.
Casting in Straßen, auf Partys,
im Fernsehen und via Facebook
Mir war klar, was ich mir da vorgenommen hatte: Wenn ich ein derart ikonografisches Bild nachstellen wollte, das fest im kollektiven Bewusstsein verankert ist, musste jedes Detail stimmen: jede Trommel, jede Lanze, die Kleidung, Körperhaltung und Blickrichtung – und vor allem auch die Gesichter der Prota
gonisten. Also habe ich mich gemeinsam mit meiner Lebensgefährtin Jessica Karelsen, die den Part der Produzentin und Casting-Direktorin übernahm, an die Arbeit gemacht. Wir haben landesweite Facebook-, Radio- und TV-Aufrufe gestartet, auf der Straße und im privaten Umfeld nach Lookalikes Ausschau gehalten. Ein Double von Kapitän Banninck Cocq, einer der beiden zentralen Figuren der Nachtwache, entdeckten wir auf einer Hochzeit. Selbst der Hund auf dem Bild gleicht dem Hund auf dem Original; er gehört einer alten niederländischen Hunderasse an.
Bei Requisiten wie Waffen und Mobiliar haben wir ein Großteil in Zusammenarbeit mit Museen wie dem Rijksmuseum zusammengetragen. Das Gros der Kleidung haben fünf Näherinnen über drei MonateunterderLeitungvonHansUbbinkangefertigt. Requisiten, die nicht mehr existieren, etwa bestimmte Helme, haben wir in 3D nachgebaut, mit 3D-Druckern ausgegeben und anschließend von Hand mit Eisen und Gold verkleidet.
Alle Protagonisten wurden separat geshootet, insbesondere weil die Körperhaltung und Blickrichtung mit den insgesamt 62 Teilnehmern definitiv nicht machbar gewesen wäre. Das Shooting, das ich mit einer 100-MP-Phase-One-IQ3 mit 80-mm-Objektiv im Studio durchführte, nahm etwa eine Woche in Anspruch. Witziges Detail: Wegen der hohen Auflösung war es nicht möglich, mit falschen Bärten zu arbeiten – das hätte man gesehen. Also mussten sich die meisten Darsteller Bärte stehen lassen, die dann vom Make-up-Artist vor dem Shooting in Form gestutzt wurden.
Aufwändige Lichtführung im Rembrandt-Stil
Rembrandt ist berühmt für sein akzentuiertes Licht- und Schattenspiel, weshalb ich mich intensiv mit seiner Lichtführung und den Lichtverhältnissen in seinem Atelier auseinandergesetzt habe, das von einem weichen, aber gerichteten Fensterlicht dominiert wurde. Dieses Butterfly-Licht habe ich mit zahlreichen Blitzgeräten erzeugt, die auf eine sechs mal sechs Meter große weiße Stoffwand zielten, die exakt der Größe von Rembrandts Atelierfenster und damit der Beleuchtungssi- tuation in seinem Atelier entsprach.
Die Planung, Gestaltung und Inszenierung der „Kehrseite“ des Bilds war nahezu so aufwändig wie die Replik der Vorderseite, denn mein Ziel war es, gemeinsam mit Hans ein Sitten- und Zeitgemälde zu zeichnen, in dem verschiedene gesellschaftliche Schichten eine Rolle spielen. Auf der linken Seite haben wir eine deftige Wirtshaus-Szene nachgestellt, in der ein Saufgelage und eine übergriffige „MeToo“-Szene zu sehen sind, rechterhand befindet sich eine Gruppe von Menschen aus der betuchten Gesellschaftsschicht beim Eintreiben von Geldern, dazwischen Hendrickje Stoffels, Rembrandts letzte Geliebte, sowie Rembrandts Frau Saskia in einem schwarzen, mit verwelkten Blumen verzierten Kleid, das auf ihren nahen Tod hindeutet.
Zehn Monate Produktionszeit
Alles in allem erstreckte sich die Produktion über zehn Monate, der Bildhintergrund, also die historischen Gebäudestrukturen sind Composings aus mehreren historischen Gebäuden in Amsterdam und Leiden. Die Postproduktion habe ich selber in vielen tagelangen Photoshop-Sitzungen gemacht. Die Ausgabe der Bilder erfolgte auf einem Océ Arizona 480XT auf mehreren Platten, die für das endgültige, 420 x 535 Zentimeter große Bild nahtlos verbunden wurden. Am Ende wurde das fertige Werk im Amsterdamer Rijksmuseum als Teil der „Lang Leve Rembrandt“-Ausstellung gezeigt.
Für die Einzelportraits der Darsteller, die wir neben der Nachtwacht360 in einer weiteren Ausstellung in Amsterdam gezeigt haben, kam ein Canon-Imageprograf-Pro-400-Drucker zum Einsatz. Canon hat die komplette Bildausgabe gesponsert und wirklich einen großartigen Job gemacht.
Mein Blick auf die Nachtwache ist seit der Produktion und der intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk ein anderer. Es ist einfach unfassbar, wie viel Bewegung Rembrandt in das Bild gebracht hat und wie er es versteht, den Blick des Betrachter zu lenken. Die Umsetzung war ein hartes Stück Arbeit, aber auch unglaublich befriedigend. Wir haben das gesamte Projekt mit Ausnahme der durch Canon gesponserten Bildausgabe aus eigener Tasche finanziert, das war natürlich ein ziemliches Risiko. Zur Refinanzierung verkaufen wir jetzt limitierte Auflagen der Prints, das funktioniert sehr gut. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich mit der kommerziellen Fotografie und dem Filmen, aber Kunstprojekte dieser Art sind meine wahre Leidenschaft. Das nächste ist bereits in der Pipeline.
Der Fotograf
Julius Rooymans, Jahrgang 1971, wuchs in einem Bauerndorf in der Mitte der Niederlande auf, sein Vater war Maler, die Mutter Bildhauerin. Nach seinem Abschluss an der Rietveld School of Art & Design in Amsterdam im Jahre 1998 machte er sich als Fotograf und Filmemacher selbstständig und arbeitet seit- her für internationale Werbeagenturen und Magazine. Seine Arbeit besteht oft aus manipulierten Situationen: großen Composings, die zuweilen die Zweidimensionalität des Mediums durchbrechen.