Der besondere Moment
Die Sujets von Julia Baier sind virtuos verdichtete Alltagspoesien, denen dank des „Decisive Moment“ etwas Seltenes innewohnt: Zeitlosigkeit. Von Peter Schuffelen
Um ein Haar wäre sie Psychologin geworden. Doch nachdem sie das Fach Anfang der 90er-Jahre ein paar Semester lang studiert hatte, nahm Julia Baier ihren Mut zusammen. Sie folgte ihrer inneren Stimme und bewarb sich an der Hochschule für Künste Bremen für das Fach Grafikdesign mit dem Schwerpunkt Fotografie. „Wenn ich damals nicht akzeptiert worden wäre, hätte ich die Idee, Fotografin zu werden, verworfen“, sagt Baier, die anfangs mit einer Minolta X300 fotografierte und die Bilder in der Dunkelkammer entwickelte. „Rückblickend bin ich froh, dass es geklappt hat. Ich liebe das kreative, aufregende und selbstbestimmte Leben als freiberufliche Fotografin.“
Beides, das Psychologische wie das Grafische, spiegelt sich bis heute in ihren Bildern wider, die, zumindest in ihren freien Arbeiten, nahezu ausnahmslos schwarzweiß sind. Beispiele, aus der Vogelperspektive geschossen: Ein Mann, der an einer Leine einen schweren Schatten hinter sich herzuziehen scheint. Ein Pudel, der im Schnee einem Tennisball hinterherspringt. Ein Fahrradfahrer, der konzentrische Kreise in eine Pfütze auf dem Asphalt dreht. Oder: Hingetuschte Pinselstriche auf einer weißen Leinwand, die sich auf den zweiten Blick als freigeschaufelte Wege in einem schneebedeckten Innenhof entpuppen. Es ist der Hof, den sie sieht, wenn sie aus ihrem Badezimmerfenster blickt. „Das ist mein meistverkauftes Bild“, sagt Baier. „Vermutlich, weil es vieles von dem vereint, was mir wichtig ist. Das Grafische, das Rätselhafte, Poetische, das Mehrdeutige. Das, was man eben nicht mit dem Auge, sondern nur mit der Kamera einfangen kann.“
Ihre Motive sind meist alltäglicher Natur und kommen unprätentiös und unaufgeregt daher. Alle Aufnahmen beruhen auf zufälligen Gegebenheiten; gestellte Bilder interessieren Baier nicht. Sie sind also ein Ausdruck der Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit allerdings, deren Eindeutigkeit sie durch Moment, Ausschnitt und Perspektive zugleich infrage stellt. Ihren Zauber erhalten die Bilder durch die durchdachte Komposition und das, was Henri-Cartier Bresson einst den entscheidenden Moment nannte.
Thematische und formale Beständigkeit
Noch etwas fällt beim Betrachten von Baiers Bildern auf: eine hohe formale und thematische Beständigkeit. Es ist schwer zu sagen, welches Foto aus den 90ern oder aus den letzten Jahren stammt. Schon während ihrer Diplomarbeit fand sie zu ihrem Hauptthema, der Badekultur, dem sie bis heute treu bleibt. Da gibt es diese Gegenlicht-Schimäre zweier Halbstarker, die glückstrunken und schwerkraftstrotzend unter einem Sprungturm schweben. Lebensgroße Füße, die den Absprung vorbereiten, während an einer Seite des Sprungbretts ein däumlingsgroßer Junge zu hängen scheint. Frauen bei der Körperpflege in einem öffentlichen Bad in Japan, davor auf einem Tisch die unscharfen Umrisse einer Katze. Das Baden als gesellschaftliches Ereignis und psychologisches Phänomen lässt Baier nicht los. Sie hat in Deutschland, Japan, Litauen und Ungarn und noch vielen anderen Ländern fotografiert; derzeit plant sie ein Buch über Bäder in der ganzen Welt.
„Das Grafische, das Rätselhafte, Poetische, das Mehrdeutige.
Das, was man eben nicht mit dem Auge, sondern nur mit der Kamera
einfangen kann.“
Und da ist noch ein Thema, das Baier seit Jahren verfolgt: die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen. Seit ihrer Studienzeit begleitet sie das Orchester und produziert dabei immer wieder Bilder, die weit über klassische Musikerportraits hinausgehen. Beispiele: Die Musiker auf der Straße – aus der Ferne, bei tief stehender Sonne fotografiert, wirken sie wie Püppchen in einem Architektur-Modellbau. Schwarze Hosenbeine, daneben am Boden ein Kontrabass und der Schatten eines …
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digit! Magazin 4-2024, Schwerpunkt „Virtuelle und wahrhaftige Bilder“, Umfang: 84 Seiten
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