Wahnsinnsjahre
In seinem Projekt „365“ inszeniert Eugenio Recuenco die Absurditäten des Lebens in 365 fantastischen Kalender-Bildern. Wir haben mit dem spanischen Top-Fotografen über den Abschluss seines sieben Jahre dauernden Mammut-Projekts gesprochen und zeigen eine exklusive Auswahl der Ergebnisse.
Eugenio Recuenco ist guter Dinge, als wir ihn erreichen. Die letzten Aufnahmen des 365 Bilder umfassenden gleichnamigen Projekts sind im Kasten – endlich, sieben Jahre nach dessen Start. Der 49-Jährige, bekannt für seine märchenhaften und zugleich hyperrealistischen, abgründigen Traumwelten voller Absonderlichkeiten und selbst geschaffener Symbole, ist einer der gefragtesten Mode- und Werbefotografen und Filmer Spaniens. Er hat Kampagnen für Model-Labels wie Nina Ricci oder Yves Saint Laurent geschossen und TV-Spots für Marken wie Loewe, Freixenet, Chivas Regal oder Motorola gedreht – aber auch für Bands, beispielsweise für Rammstein. Gemeinsam mit dem Artdirector Eric Dover, mit dem er seit Jahren zusammenarbeitet, hat er das Bühnenbild und die Inszenierung der Oper Les Huguenots in New York verantwortet und den renommierten Lavazza-Kalender für ein Jahr übernommen. Und er arbeitet regelmäßig für Modemagazine wie Vogue, Madame Figaro, Vanity Fair, GQ oder Marie Claire. Über Mangel an Arbeit kann sich Recuenco nicht beklagen.
Und doch stürzt er sich immer wieder in freie Projekte. Vor 20 Jahren sei die Modefotografie weit kreativer und ästhetisch innovativer gewesen, findet er, heute dominiere der Rentabilitätsgedanke. Damit werde es immer schwerer, künstlerisch zu arbeiten. „Folglich muss man hin und wieder das tun, wozu man Lust hat und frei arbeiten“, sagt er. Mit „365“ hat der Fotograf aus Madrid diese Idee des lustbetonten freien Arbeitens auf die Spitze getrieben. Die Idee kam ihm 2010 eher zufällig, als er 20 freie Tableaus produzierte. „Irgendwann dachte ich: Das lässt sich größer denken, viel größer.“ „365“ ist ein Mammut-Projekt geworden, an dem viele Dutzend Models, Bühnenbauer, Make-up-Artists und Stylisten teilgenommen haben – weil sie das Konzept gut fanden, weil es Eugenio war, der sie ansprach, weil er jedem einzelnen Raum gab, eigene Ideen einzubringen.
„Das Absurde (...) dringt ohne Vorwarnung in unser Leben, um die Zugel unseres Handelns zu übernehmen.“
Zimmer ohne Aussicht
So unterschiedlich die einzelnen Bilder sind, so spielen sich die Inszenierungen doch alle auf der gleichen „Bühne“ ab – in einem kleinen, grob verputzten Raum, der je nach Blickwinkel einer Gebets- oder Gefängniszelle ähnelt, in die durch ein kleines Fenster weit oben Licht einfällt. In eben diesem dioramaartigen Raum spielen sich Szenen wie aus „Alice im Wunderland“ ab, hyperrealistisch in ihrer Schärfe und Konkretheit, verworren und abstrus wie in einem LSD-Trip: ein junges Mädchen, das sich eine Beinprothese anzieht, während aus der grauen Wand bestrumpfte Frauenbeine ragen. Ein kleines Mädchen mit einer Leine in der Hand, an der ein Gesteinsquader schwebt wie ein gasgefüllter Luftballon. Marilyn Monroe, deren weißer Rock vor einem Abbruchstück der Berliner Mauer hochweht, während ein Mann auf einer Leiter ihr von der anderen Seite aus zusieht. Oder ein Paar im 20er-Jahre-Gatsby-Style, das in Kinosesseln sitzt und einen Schwarzweißfilm betrachtet, der durch besagtes Fenster auf die Wand der Zelle projiziert wird.
„Ich hatte einem kleinen Raum vor Augen, der so neutral wie möglich sein sollte. Dieser Raum repräsentiert uns selbst, den einzelnen Menschen“, sagt Recuenco. „Das kleine Fenster fungiert als Schnittstelle zur Außenwelt, durch das uns unterschiedlichste Reize erreichen. Seine erhöhte Position verweist auf die Schwierigkeit ihrer Entschlüsselung, die von unserer individuellen Entwicklung abhängt, von unseren Erfahrungen, von der Kultur, der wir angehören. Es ist mein bisher größtes Projekt. Und es ist mein persönlichstes, denn es erzählt von dem, was ich in den 50 Jahren, in denen ich auf dieser Welt bin, gesehen …
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